Dr. Klaus Heer

50plus April/Mai 2016
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«Beziehungsgespräche sind eine Qual. Weil sie nichts bringen.»

Wir alle wünschen uns glückliche Liebesbeziehungen, die möglichst lange halten. Und wir alle fragen uns, wie wir diesen Wunsch am besten realisieren sollen. „Weniger reden, mehr zuhören“, rät der Paartherapeut Klaus Heer – und erklärt auch, warum wir Sex auf keinen Fall überbewerten sollten. Ein Gespräch über Träume, Realitäten und die Kostbarkeiten einer Partnerschaft.

INTERVIEW: MAJA HARTMANN
Dr. Klaus Heer ist Psychologe und einer der bekanntesten Schweizer Paartherapeuten. Seit 42 Jahren betreibt er eine eigene Praxis in Bern, ist Autor von vier Büchern, hat unzählige Kolumnen und Artikel verfasst. Der Titel seines letzten Vortrags, den er im Februar im Museum für Kommunikation in Bern hielt, war: „Zusammen alt werden. Schön wär’s“. Und damit sagt er eigentlich schon alles. Die Frage ist also: Steckt ein Konstruktionsfehler in unseren Beziehungen? Sind unsere überhöhten Glückserwartungen vielleicht Schuld am allzu häufigen Scheitern unserer Paarbeziehungen? Vielleicht. Klaus Heer mutmasst auf jeden Fall einen Hang zum Desaster in unseren Beziehungsbiographien.
 
Herr Heer, ganz ehrlich: Ich fürchte mich etwas vor diesem Gespräch. Werden Sie mir die beruhigende Vorstellung, dass ich eines Tages gemeinsam mit meinem (jetzigen!) Mann in unserer Alterswohnung sitze und beim Nachmittagstee Händchen halte, nehmen? Dafür müssten wir noch gute 40 Jahre zusammenbleiben.
Kein Problem. Ich werde Ihnen nichts wegnehmen. Denn Liebesgeschichten leben gern einerseits von erregenden Erinnerungen und andererseits von tröstlichen Träumen vom herzwarmen Alter zu zweit. Die real gelebte Beziehung dazwischen ist nicht immer eitel Honiglecken. Das hat sich inzwischen herumgesprochen.
 
Ja, allerdings. Nehmen wir mal an, ich halte an diesem Traum fest. Was muss ich tun, um die nicht ganz einfachen Phasen einer Beziehung möglichst unbeschadet zu überstehen?
Vielleicht ist das ganz einfach. Verabschieden Sie sich von der Idee, Sie müssten die Schwierigkeiten Ihrer Beziehung «möglichst unbeschadet überstehen». Jede dauerhafte Liebe kommt an ihre Grenzen. Immer wieder setzt es Unbill und Wüste und Dürre ab, also Enttäuschungen, Mangel und Verletzungen. Lieben heisst, mit den Scheidungsgründen zurechtkommen.
 
Welche sind denn Ihrer Erfahrung nach die Scheidungsgründe, mit denen die meisten nicht zurechtkommen?
Die folgenden drei Klagen höre ich am häufigsten von Paaren. Erstens: Wir können nicht mehr reden miteinander und verstehen uns nicht. Zweitens: Im Bett haben wir sehr unterschiedliche Bedürfnisse, vor allem, was die Sex-Häufigkeit betrifft. Oder im Bett läuft inzwischen gar nichts mehr. Und drittens: Wir haben keine Zeit für uns zwei, alles andere ist viel wichtiger. Jede dieser drei Störungen kann eine Beziehung ernsthaft in Gefahr bringen.
 
Ich hätte angenommen, dass Seitensprünge die grössten Partnerschaftskiller sind.
Tatsächlich zerbrechen viele Ehen an aushäusigem Sex oder auch an Dauerzoff wegen Erziehung, Geld, Schwiegermutter und so weiter. Doch viel interessanter ist die Frage, was die Liebe so zerbrechlich machen kann. Spröde werden Beziehungen, die stumm, vertrocknet und atemlos sind.
 
Dann ist die oberste Priorität also, immer in Kommunikation zu bleiben? Gerade Männer lieben doch „Beziehungsgespräche“ so heiss!
Viele Leute – nicht nur Männer! – haben die Nase voll von ihren «Beziehungsgesprächen». Weil sie eine Qual sind. Weil sie nichts bringen. Wenn zwei miteinander reden und keiner hört zu – das ist Folter. Oberste Liebespriorität ist also nicht Gespräch und Kommunikation, sondern Stillsein und Hinhören.
 
Das verstehe ich nicht ganz: Wenn Gespräche über die Beziehung nichts bringen, wo soll man denn genau hinhören?
Es ist das Probleme-Wälzen, mit dem die meisten Paare so klägliche Erfahrungen machen. Die Beziehungsnabelschau ist kein Beitrag zur Lösung, sondern Teil des Problems. Aber bitte, es gibt weiss Gott andere Themen im tagtäglichen Leben von Mann und Frau, die es wert sind, dass man sie einander erzählt. Und dass man sich mit Ohr und Herz einander zuwendet.
 
Kommen Paare denn nicht zu Ihnen, um über ihre Partnerschaft zu sprechen?
Nein, sie kommen, um es miteinander besser zu haben. Zu dritt fahnden wir nach Möglichkeiten, wie die beiden das vielleicht erreichen können, konkret.
 
Wie kann so eine Möglichkeit aussehen?
Eine wahre Schatztruhe ist immer die eigene Liebesgeschichte. Sie enthält eine Menge Kostbarkeiten, die man im Lauf der Jahre liegengelassen hat. Am Anfang der Liebe hat man ja keine Beziehungsprobleme durchgeknetet, sondern man erzählte einander Geschichten von sich, alte und neue. Und man berührte sich, beileibe nicht nur sexuell, nein, man ging Hand in Hand lange im Wald spazieren, man lehnte sich beim Fernsehen aneinander, man füsselte unter dem Tisch. Jede Menge solcher Liebeskontakte hat man unterwegs verloren. Viel davon lässt sich auch nach Jahrzehnten wieder aktivieren.
 
Zum Thema Sex-Häufigkeit: Ist das denn ein Mann-Frau-Problem? Sprich: Er ist allzeit bereit, während sie lieber ein gutes Buch liest?
Ein Mann-Frau-Thema ist es immer weniger. Männer und Frauen nähern sich hier mehr und mehr an. Es ist gut zu wissen, dass es kein Paar gibt, dessen sexuelle Bedürfnisse gleich und gleich stark ausgebildet sind. Jedes Paar muss mit dem sexuellen Ungleichgewicht leben lernen. Leicht ist das nicht.
 
Ist die Liebesbeziehung in Gefahr, wenn das Sexualleben nicht stimmt?
Ja. Weil meistens beide überzeugt sind, dass Liebe ohne Sexualität keine Liebe ist. Genau genommen hat aber Sex mit Liebe so gut wie nichts zu tun, sondern mit Bedürftigkeit. Unsere Kultur sexualisiert die Liebe krass. Wenn man die Augen aufmacht, sieht man: Sex und Liebe haben im real existierenden Leben wenig gemeinsam. Siehe Prostitution innerhalb und ausserhalb des eigenen Ehebettes, siehe die monströse Pornoflut. Aber in unseren Köpfen gehören Sex und Liebe zusammen wie der Rosenstrauss und der Valentinstag. Das ist Liebeskitsch.
 
Denken Sie, dass es mehr glückliche Beziehungen, beziehungsweise weniger Trennungen gäbe, wenn wir den Sex als Indikator für Liebesglück ausklammern würden?
Paare fahren ihre Liebe an die Wand, weil sie davon ausgehen, dass ihre Liebe ein Freudenhaus sein müsste, unbedingt. Dieses Freudenhaus ist ein unwirtliches Luftschloss.
Wenn es also nicht die körperliche Liebe ist, die eine Paarbeziehung über die Zeit zusammenhält, welche Faktoren sind es dann?
Der Klebstoffe sind viele und nicht alle sind lustig. Besonders strapazierfähig sind Bequemlichkeit und Angst vor Veränderung. Und auch die Hoffnung, dass sich doch eines Tages alles zum Besseren wenden könnte, quasi von selbst. Nicht zu unterschätzen ist der bisherige Lauf der Liebesgeschichte. «Wir haben doch so viel zusammen aufgebaut», sagen die meisten Paare. Das bindet und verbindet fest. Paradoxerweise ist es aber auch die zunehmende Ernüchterung, die einen daran hindert, das Weite zu suchen. Wer weniger Bedürfnisse hat, wird fast von allein zufriedener. Vorausgesetzt, es ist nicht schlapper Dauerfrust, sondern resignative Reife.

Was raten Sie denn Paaren, deren Beziehungs-Kitt Bequemlichkeit ist? Können diese Paare dauerhaft glücklich sein miteinander?

Glücklich nicht, aber zufrieden. Wer zufrieden ist, braucht und sucht keinen Rat.
 
Kämpfen junge Paare mit anderen Problemen als ältere?
Ja. Paare, die voll im Saft sind, sind oft konfrontiert mit viel realem Stress und grosser Überforderung. Sie haben aber gleichzeitig Glücksvorstellungen, die sich mehr und mehr als nicht realisierbar herausstellen. Das ist alles quälend.
Bei Paaren jenseits der Goldenen Hochzeit ist es eher die prekäre Mischung aus trüber Resignation und bitterer Abrechnung, die den Zweien zu schaffen macht. Ich erkläre mich: Zwei Menschen, die lange miteinander leben, führen verdeckt eine Buchhaltung über Soll und Haben, Geben und Nehmen, über Aufwand und Ertrag, über Enttäuschung und Überraschung. Die Bilanz ist oft traurig und gallig. Stumm und einsam mit ihr zu leben, ist schwierig und lastend. Darüber zu reden geht häufig nicht, weil der Mut fehlt. 
 
Was können wir tun, um zu verhindern, dass sich eine solche „verdeckte Buchhaltung“ etabliert und über die Jahre in Form von Frust aufstaut?
Die Liebes-Buchhaltung kann niemand vermeiden, auch wenn «Liebes-Buchhaltung» wie ein Widerspruch in sich selbst klingt. Sie ist der Fahrtenschreiber der Beziehungsgeschichte, der unbemerkt sorgfältig aufzeichnet, was unterwegs zwischen den Zweien läuft. Was man mit den erfassten Schiefheiten macht oder machen sollte, ist von Paar zu Paar verschieden. Es wäre sicher falsch, strikt zu fordern, man müsse sich den Frust unbedingt von der Seele reden.
 
Sind Paare in der zweiten Lebenshälfte motivierter, eine Paarbeziehung, die in der Krise steckt, zu retten?
Das weiss ich nicht genau, ich sehe ja nur die mutigsten älteren Paare, die den Versuch wagen, einen Neuanfang zu machen, statt sich der Schwerkraft von Resignation und dumpfer Enttäuschung zu überlassen. Die steigenden Scheidungszahlen bei den älteren Paaren lassen vermuten, dass bei diesen Menschen die Lust zunimmt, sich gegen das Dunkel des so genannten Lebensabends zur Wehr zu setzen. Sie wollen selbstbestimmt dafür sorgen, dass es ihnen gut geht – wenn’s sein muss, allein, als Altsingle.
 
Ist es für Paare mit grossem Altersunterschied eigentlich schwieriger, eine gute Beziehung zu führen?
Nein. Die Liebe ist eigenwillig und macht, was sie will. Und jede Liebe hat ihren Preis, ganz egal, ob die beiden Menschen gleichaltrig sind oder nicht.
 
Gibt es manchmal Paare, denen Sie lieber bei der Trennung helfen würden als beim Aufrechterhalten ihrer Beziehung?
Ja, es kommt vor, dass mich der äussere Anblick einer Paarmisere total beelendet. Aber ich würde mich hüten, jemals eine Trennung zu empfehlen. Das wäre sträflich unprofessionell. Stattdessen konfrontiere ich die beiden mit allen Einzelheiten ihres Unglücks und lege ihnen auf diese Weise nahe, notwendige Entscheidungen zu erwägen. 
 
Sie haben einmal gesagt: „Liebe und Ehe sind die Quadratur des Kreises. Unsere Beziehungsrechnungen gehen nicht auf. Unsere Liebesinvestitionen sind immer unsicher. Unsere Reise zu zweit geht ins Ungewisse“. Ist es also vielleicht die bessere Alternative, sich gar nicht erst zu binden?
Sokrates hat im fünften vorchristlichen Jahrhundert den Nagel auf den Kopf getroffen: «Heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen.» Lassen Sie mich versuchen, diesen entzückenden Satz auf Deutsch zu übersetzen. Vielleicht so: «Die Liebe ist ein schwieriges und verfängliches Geschenk, also allemal zwiespältig. Dennoch will sie mein bedingungsloses Ja. Sonst macht sie dich und mich unglücklich». – Und wie lautet Ihre Übersetzung?
 
Nun, da ich mich bereits eingangs mit meinem Traum vom „herzwarmen Alter zu zweit“ als bedingungslose Bejaherin geoutet habe, würde ich sagen: «Die Sache ist so oder so verzwickt, aber nicht hoffnungslos! Immerhin.» Doch wenn ich ehrlich bin, hätte ich schon noch gerne von Ihnen so etwas wie „Die zehn wichtigsten Ratschläge zum Gelingen einer Ehe“ erfahren. Einfach so, zur Sicherheit ...   
Ihre feine Übersetzung des Sokrates-Satzes bringt mich auf neue Ideen. Zum Beispiel könnte ich auch so übersetzen: «Je misslicher Ihre Beziehung, umso sorgsamer müssen Sie sich vor Rat-Schlägen von (Fach-)Leuten hüten. Schultern und tragen Sie die Misslichkeit Ihrer Liebe wach und unbeirrt. So geht sie womöglich vorbei.» – Jetzt sind Sie wieder dran!
Zur Person

Klaus Heer studierte Psychologie in Hamburg und Bern und promovierte 1973. Ein Jahr später eröffnete er seine Privatpraxis für Paartherapie in Bern, die er bis heute betreibt.
In den Medien war Klaus Heer schon früh sehr präsent: Von 1968 bis 1992 arbeitete er beim Schweizer Radio DRS. Seine Sendungen, wie zum Beispiel «Sind Sie sinnlich?», im Jahr 1975, oder die zwanzigteilige Reihe «Ehe-Sexualität», 1987, fanden grosse Beachtung, auch kritische. Während seiner Laufbahn publizierte er auch regelmässig in verschiedenen Printmedien, zum Beispiel in der Wochenzeitung «Wir Brückenbauer» und in «Puls-Tipp». 1995 erschien sein erstes Buch «Ehe, Sex & Liebesmüh» (Neuauflage im Salis Verlag 2012), das ein heftig diskutierter Bestseller-Erfolg wurde. 2000 folgte «WonneWorte» im Rowohlt Verlag. Das dritte Buch «Paarlauf - Wie einsam ist die Zweisamkeit» erschien 2005 im Scalo Verlag Zürich. Zuletzt ist 2009 das Interviewbuch von Barbara Lukesch erschienen: «Klaus Heer, was ist guter Sex?» im Wörterseh Verlag Zürich.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor